Luis
„Luis, komm bitte runter.“ Die Stimme seiner Mutter drang aus dem Wohnzimmer zu ihm, aber er ignorierte sie für den Moment. Vermeidungstaktik vom feinsten, aber nachdem er immer noch nicht wusste, was seine Eltern wollten, versuchte er sich abzulenken. Nicht, dass es wirklich funktionierte, dafür war es zu komisch, dass sie ihn nach Hause bestellt hatten.
Er überlegte, was er mit dem T-Shirt machen wollte, das er gerade aus dem Rucksack genommen hatte. Sollte er die Nähte auftrennen und den Schnitt komplett verändern oder nur ein paar Patches anbringen? Zuerst sollte er aber vermutlich herausfinden, was seine Eltern wollten. Der Sache aus dem Weg gehen würde wohl auch nicht helfen.
Luis fuhr sich mit der Hand durch sein blondes Haar. Irgendwann bald war mal wieder Friseur angesagt. Aber nicht, bevor er den nächsten Lohn bekam. Im Moment war er so gut wie pleite. Für einen Haarschnitt war es nicht genug. Immerhin würde sein Geld bis Ende des Monats zum Essen reichen — das war wichtiger.
Seine Eltern hatten deutlich gemacht, dass sie seine Entscheidung, Kunst zu studieren, nicht unterstützen würden. Und obwohl er das nie laut zugeben würde, war er irgendwie stolz, dass er sie nicht brauchte. Er schaffte es allein. Nicht wie einige der anderen Studenten, die in den Tag hineinlebten, während sie Geld von zu Hause bekamen und es für Partys ausgaben. Luis hatte nicht viel Zeit zum Ausgehen. Entweder lernte er, oder er arbeitete. Und manchmal schlief er, aber nur, wenn er es sich leisten konnte.
Er grinste sein Spiegelbild an. Der Ich-bin-todmüde-Look stand ihm absolut … beschissen. Fünf Stunden Schlaf pro Nacht reichten einfach nicht, aber er war Jahrgangsbester und er arbeitete fünfunddreißig Stunden pro Woche. Das sprach für sich. Nächste Woche oder so konnte er sich aber endlich einen Tag frei nehmen und dann zehn Stunden am Stück schlafen. In ein paar Tagen hatte er die meisten seiner Klausuren hinter sich, zumindest vorerst. Dann konnte er sich ausruhen.
Aber zuerst musste er sehen, was seine Eltern wollten. Was wollten sie ihm mitteilen? Es war wohl wichtig genug, um ihn nach Hause zu beordern.
Wollten sie sich scheiden lassen? Daran hatte er noch gar nicht gedacht. Auf dem Weg zu ihrem Haus hatte er vermutet, dass etwas nicht stimmte, dass einer von ihnen krank war, aber beide hatten diese Frage verneint. Sie hatten ihm nur gesagt, er solle seine Tasche in sein altes Zimmer bringen und dann wieder runterkommen. Doch bevor er überhaupt tief durchatmen und darüber nachdenken konnte, was sonst alles nicht in Ordnung sein könnte, rief seine Mutter erneut und ließ ihm keine Zeit dafür.
Sie würden sich nicht scheiden lassen. Sie waren schon so lange zusammen. Doch selbst das war heutzutage keine Garantie mehr. Aber egal was passieren würde, er musste da jetzt runter und mit ihnen reden. Es musste wichtig sein. Sonst hätten sie ihn nicht nach Hause gerufen.
Mit schweren Schritten ging er die Treppe hinunter ins Wohnzimmer. Angst machte sich in seinem Bauch breit, als er sie mit ernstem Gesichtsausdruck auf der Couch sitzen sah. Sie sahen angespannt aus. Was auch immer sie ihm sagen wollten, es war nichts Gutes.
Seine Großeltern waren schon gestorben, also konnte er die ausschließen. Aber was dann? Ihm fiel nichts ein.
Luis setzte sich auf die Couch.
Seine Mutter drehte sich zu ihm um und nahm seine warme in ihre kalte Hand. Ihre schönen blauen Augen suchten die seinen. Sie atmete sichtlich tief ein. „Ich muss dir etwas sagen. Bitte hör mir zu, bevor du etwas dazu sagst.“
Luis schluckte schwer. Was würde jetzt kommen? Seine Hände waren klamm, aber er konnte nur eine an seiner Jeans abwischen, da seine Mutter die andere festhielt. Luis starrte in ihr Gesicht und versuchte herauszufinden, was los war. Etwas Schlimmes war passiert. Etwas wirklich Schlimmes. Blut rauschte in seinen Ohren, während er darauf wartete, dass seine Mutter oder sein Vater weitersprachen.
„Der König des Münchner Zirkels hat uns vorgestern besucht. Er hat uns einen Vorschlag unterbreitet. Sein Sohn, Gerome, braucht einen Partner. Er hat ein Bild von dir auf einem Treffen vor ein paar Monaten gesehen und ist der Meinung, dass ihr gut zusammenpassen würdet. Der Prinz wird bald die Krone übernehmen und er braucht einen Partner an seiner Seite. Dich, um genau zu sein.“ Seine Mutter hielt inne und drückte seine Hand fester. „Ich habe zugestimmt. Eine Verbindung mit dem Prinzen bringt viel Macht in unseren Zirkel. Und der König hat uns viel Geld geboten.“
„Ihr habt was?“, brüllte Luis und versuchte, seine Hand zurückzuziehen, aber seine Mutter hielt ihn fest. Er sprang von seinem Platz auf und versuchte, sich loszureißen. Was zum Teufel dachten sie sich dabei? Das war wohl ein verdammter Scherz! Er würde sich nicht mit einem Typen verbinden, den er noch nie getroffen hatte. Sie waren doch total verrückt. Durchgeknallt.
Seine Mutter ließ nicht locker und hielt seine Hand noch immer fest ihrer.
„Lass mich los! Ich werde mich mit niemanden verbinden, den ihr ausgesucht habt! Was gibt euch das Recht dazu?“ Seine Stimme brach, aber seine Mutter zuckte nicht einmal mit der Wimper.
„Beruhige dich. Du wusstest, dass so etwas passieren würde. Jeder verbindet sich irgendwann. So läuft das“, sagte seine Mutter ruhig, obwohl sich ihre Finger immer noch in Luis’ Hand gruben. Es tat weh, doch darauf konnte er sich jetzt nicht konzentrieren. Er musste weg, bevor sie ihn verpaarten. Sein Verstand raste, suchte nach Auswegen. Er konnte sich nicht einfach mit irgendjemandem verbinden.
Könnte er wegrennen? Sich verstecken? Und dann? Würde ihm einer seiner Freunde dabei helfen, unterzutauchen? Wenn ihn der König als Partner für seinen Sohn haben wollte, würde es dann überhaupt helfen, sich zu verstecken? Oder würden sie ihn finden?
Er setzte sich nicht hin, sondern blieb stehen, bereit zu fliehen, sobald sich der Griff seiner Mutter lockerte. Und er würde weglaufen. Sie würden ihn nicht wie ein Tier verkaufen. Sein Herz schlug wie verrückt und das Blut rauschte so laut in seinen Ohren, dass er die Worte seiner Mutter nicht verstand. Nicht, dass er sie hören wollte. Sie hatten ihn verraten. Ihn verkauft. Panik stieg in ihm auf, bis er nicht mehr richtig atmen konnte. Sie konnten ihm das nicht antun.
Luis blickte zu seinem Vater. Der war seltsam still geblieben. “Dad, kannst du nicht etwas tun? Das ist nicht richtig. Bitte, hilf mir.“ Vielleicht konnte sein Vater das Ganze verhindern.
„Es tut mir leid, aber ich kann nichts tun. Ich gehöre deiner Mutter und sie hat die Entscheidung getroffen.“ Er sah auf. Der Schmerz in seinen Augen war fast zu viel für Luis. „So wird es schon seit langer Zeit gemacht. Ihr Vater hat mich vor all den Jahren gekauft und es funktioniert gut. Es ist das Beste für dich, einen starken Partner zu haben. Du wirst ein toller Gefährte für ihn sein. Ich hätte mir gewünscht, dass du ihn zuerst kennenlernst, aber sein Vater denkt, dass du gut zu ihm passen würdest, und obwohl ich traurig bin, dich gehen zu sehen, bin ich froh, dass du einen so starken Partner haben wirst. Es ist gut, Verbindungen zu haben, weißt du? Er wird dir ein guter Gefährte sein.“
„Aber ich will mich nicht mit einem völlig Fremden verbinden!“, brüllte Luis aus vollem Hals. Es war respektlos, das wusste er, aber das interessierte ihn nicht. Sie hatten ihn verkauft, verdammt nochmal. Sie hatten zugestimmt, dass er sein Leben mit jemandem verbringen würde, den er nie getroffen hatte! Er hatte jedes Recht, zu schreien. Seine Eltern hatten jeden Respekt verloren, den er je für sie gehabt hatte. Wie konnte er jemanden respektieren, der ihn verkaufte?
Schwer atmend versuchte er, seine Wut herunterzuschlucken, um klar denken zu können. Es musste einen Ausweg geben. Er musste ihn nur finden.
Was konnte er tun? Denk nach, Luis, denk nach. Sprich mit ihnen. Vielleicht gab es noch eine Chance. Sein Vater gehörte seiner Mutter. Er hatte es gewusst, aber vergessen. Sie zeigte es nie vor ihm und Luis nahm nie an Zirkelveranstaltungen teil, auch wenn seine Eltern die Vorsitzenden waren. Er hatte mehr oder weniger vergessen, dass sie Vampire waren. Zumindest war es seine Mutter. Sein Vater war hauptsächlich ein Mensch, nur ein paar seiner Vorfahren waren Vampire. Luis hatte nie den Drang verspürt, Blut zu trinken, also hatte er geglaubt, dass auch er mehr oder weniger vollständig menschlich sei. Paranormale Wesen waren vor ein paar Jahren an die Öffentlichkeit gekommen, und es spielte keine Rolle, was man war. Normalerweise zumindest.
Sein Vater gehörte seiner Mutter. Sie hatten gelegentlich gestritten — und sie hatte gewonnen — aber er war nie davon ausgegangen, dass sie aufgrund ihrer sozialen Stellung stritten. Oder ging es um ihren Rang innerhalb dieser Familie? War der Streit über die Bestrafung des eigenen Gefährten geführt worden? Ihm wurde übel, als er sich an die Zeiten erinnerte, in denen sein Vater sich nicht richtig hinsetzen konnte, an die Zeiten, in denen seine Mutter ihn mit nichts anderem als einem Blick zum Schweigen gebracht hatte. Schlug sie ihn? Galle stieg in seinen Hals auf und er schluckte schwer. Verstanden sie nicht, wie krank das war? Und wenn ja, warum stimmten sie dann so etwas zu? Wussten sie nicht, was sie ihm antaten?
Seine Mutter hielt noch immer seine Hand, was ihn höchstwahrscheinlich davon abhalten sollte, wegzulaufen. Sie kannte ihn besser, als er zugeben wollte.
Was sollte er jetzt tun? Er konnte nicht einfach zustimmen und gehorchen. Sie konnten nicht einfach sein ganzes Leben zerstören. Sein Vater konnte ihm nicht helfen. Er hatte keine Macht. Und seine Mutter schien nichts Falsches an ihren Plänen zu sehen. Vielleicht würden sein Gefährte oder der König es verstehen.
Nein, nicht König Harold. Er hatte ihn gekauft. Luis schluckte wieder, um gegen die Übelkeit anzukämpfen. Gott, er war wirklich wie ein Tier verkauft worden. Ohne ihm auch nur ein Mitspracherecht einzuräumen.
Würgend beugte er sich über die Seite der Couch und übergab sich auf den Teppich. Er konnte es um nichts in der Welt aufhalten. Seine Mutter umklammerte noch immer seine Hand, so dass er nicht einmal eine Chance hatte, ins Bad zu rennen. Es war ihm egal. Nach dem, was sie ihm gerade gesagt hatten, konnten sie es aufputzen. Er musste auch damit fertig werden, was sie ihm angetan hatten.
Schließlich, als sein Magen nur noch krampfte, setzte er sich wieder auf und wischte sich mit der Hand über seine tränenden Augen. Die Missbilligung seiner Mutter war deutlich zu sehen, als sie ihm schweigend ein Taschentuch reichte. Es war nicht Luis’ Problem. Sie war der Grund für diese Reaktion.
„Fühlst du dich besser?“, fragte sie mit eisiger Stimme. Seine Gefühle interessierten sie nicht wirklich.
„Kannst du mich bitte loslassen? Ich möchte nicht mehr in diesem Raum bleiben.“ Er brauchte all seine Willenskraft, um höflich zu bleiben. Schreien würde ihm nicht weiterhelfen.
„Nein, werde ich nicht. Die Männer des Königs werden in ein paar Minuten hier sein, um dich zum Palast zu bringen. Ich vertraue dir nicht genug, um sicher zu sein, dass du keine Dummheiten machst. Du wirst hier bleiben und mit mir warten müssen. Dein Vater wird die Sauerei wegmachen.“ Sie nickte und sein Vater stand auf und ging schweigend in die Küche. Jetzt war es ganz klar, wie die Dynamik zwischen ihnen war. Wie konnte er nur so dumm sein? Wie hatte er das übersehen können?
Ohne auch nur einmal Blickkontakt aufzunehmen, putzte sein Vater. Luis’ Kopf weigerte sich, die Ereignisse zu verarbeiten, egal, wie sehr er es versuchte. Ja, er verstand die Fakten. Aber was bedeutete das? Wenn er versuchen würde, sich seine Zukunft vorzustellen, würde er sich erneut übergeben müssen.
Aber was konnte er tun? Nichts. Wenn er es richtig verstanden hatte, würden die Männer des Königs bald eintreffen und ihn mitnehmen. Da seine Mutter seine Hand noch immer umklammert hielt, war weglaufen auch keine Option.
Panik ergriff ihn und alles drehte sich, bis ihm schwindlig wurde. Dann wurde alles schwarz.
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